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Demokratie - ein Anachronismus?

 

Demokratie hat etwas Lästiges! Ständig finden irgendwo Wahlen statt und immer wieder verändert die Bevölkerung die Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten. Die Entscheidungsprozesse in der Demokratie ziehen sich hin, erst recht, wenn das System nicht nur über eine horizontale sondern auch über eine vertikale Gewaltenteilung verfügt, wie die meisten föderal organisierten Staaten.

In der Wirtschaft hingegen müssen Entscheidungen schnell getroffen werden. So dozierten Josef Ackermann und Klaus Esser vor Gericht im Prozeß um die Abfindungen bei Mannesmann. Langwierige Verfahren, wie vor Gericht, könne man sich da nicht leisten. Für die Demokratie traf Hans-Olaf Henkel diese Feststellung, als er noch BDI-Präsident war: Wir könnten uns diesen Föderalismus nicht mehr leisten!

Immer unverhohlener diffamiert die meinungsführnede Elite in diesem Land die Demokratie als Standortnachteil. Ineffizient sei die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern, die Möglichkeiten der Blockade durch den Bundesrat behinderten zügige Reformen, und überhaupt trage der Umstand, daß ständig in irgend einem Bundesland gewählt würde, dazu bei, daß einschneidende und schmerzhafte Reformen durch die Politik schleppend oder nur verwässert durchgesetzt würden. Mangelnde Effizienz wird dem politischen System bescheinigt.

Und jüngst brachte Hans-Olaf Henkel, der zusammen mit anderen Lobbyisten im Konvent für Deutschland die »Reform der Reformfähigkeit« des Landes betreibt, bei Sabine Christansen seine Verachtung für Parlamentarier zum Ausdruck: »Ich finde es gut, dass Bundestagsabgeordnete neben diesem politischen Job auch noch etwas Vernünftiges machen.« (Quelle des Zitats). Ist also die Volksvertretung im gewählten Mandat nichts »Vernünftiges«?

Immer wieder hört man auch, daß mehr Selbständige Abgeordnete werden sollten, denn nur sie wüßten, was Deutschland nach vorne bringt, nicht etwa ein Parlament, welches aus Beamten und Lehrer bestünde, die keine Ahnung von der Wirklichkeit insbesondere in der Wirtschaft hätten. Bedauerlich ist an dieser Argumentation vor allem, wie tief sie bereits in die Bevölkerung eingesickert ist.

Parlament und Demokratie sind keine Dienstleister für die Wirtschaft, dies sei an dieser Stelle schon einmal festgestellt. Sie stehen im Dienst der ganzen Bevölkerung. Sie sind allen Menschen verpflichtet, nicht nur jenen, die es bereits zu Wohlstand gebracht haben. Das ständische Wahlrecht sollte eigentlich überwunden sein, wenn man zuweilen jedoch auch zweifeln mag, ob dies im Bewußtsein des ein oder anderen Lobbyisten, der sich der Elite zugehörig fühlt, angekommen sein mag.

Der Vorwurf an die deutsche Demokratie und insbesondere an den deutschen Föderalismus, er sei ineffizient, ist vor allem einer ökonomischen Perspektive geschuldet. Ihm liegt zudem die Vorstellung zugrunde, daß Reformen gegen die Bevölkerung durchgesetzt werden und für diese schmerzhaft sein müßten, weil sie sonst wirkungslos seien. In diesem Zusammenhang stört der Umstand, daß es zeitlich versetzte Wahlen in den sechzehn Bundesländern unseres Landes gibt, weil die Bevölkerung hier die Möglichkeit hat und auch nutzt, mit der Politik der Bundesregierung abzurechnen. Schon deshalb plädieren die Befürworter schmerzhafter Reformen für die Zusammenlegung aller Wahlen auf einen Termin, damit im Anschluß vier oder fünf Jahre regiert werden könne ohne dabei vom Wähler gestört zu werden.

Dieser Vorstellung liegt ein verqueres Verständnis der Demokratie zugrunde. Es ist das alte Obrigkeitsdenken, nachdem die Eliten wissen, was gut für die Menschen im Lande ist. Aus dieser Denkweise heraus erklärt sich auch, daß die Regierung Schröder nach jedem Wahlverlust bei Landtagswahlen nicht etwa die eigene Politik hinterfragte, sondern eben nur feststellte, man habe diese Politik den Menschen nicht hinreichend erklärt. Die Menschen hätten nicht hinreichend verstanden, warum man die sozialen Einschnitte vornehmen müsse, von denen sie erst in ferner Zukunft (wenn überhaupt!) profitieren würden.

Ist dieses Denken ein deutsches Problem? Nicht wirklich. Als die Bevölkerungen in Frankreich und den Niederlande die EU-Verfassung ablehnten, verlief die Debatte um die Hintergründe ähnlich wie bei der SPD nach den jeweiligen Wahlniederlagen in den Bundesländern. Auch hier fanden wieder die Debatten statt, in denen zunächst einmal als Erklärung für die Ablehnung der EU-Verfassung sachfremde Erwägungen herangezogen wurden: Nicht die Verfassung sei von der Bevölkerung abgelehnt worden, sondern die Menschen wollten ihren nationalen Regierungen mit den Ergebnissen einen Denkzettel verpassen und dann erneut jenes Erklärungsmuster, nachdem die Bevölkerung über die Segnungen der Verfassung einfach nicht hinreichend aufgeklärt worden sei.

Ähnliches hatte sich in Dänemark abgespielt, nachdem in einem Volksentscheid die Einführung des Euro abgelehnt wurde, die Dänen über modifzierte Regeln erneut ab- und dabei zustimmen durften, während in jenen Ländern, in denen bei Volksabstimmungen die Menschen gleich in der ersten Runde zugestimmt hatten, keine zweite Abstimmung stattfand - warum eigentlich nicht?

Auch hier offenbart sich wieder jenes technisch-taktische Verhältnis der Eliten zur Demokratie, die dann doch bitte sehr die gewünschten Ergebnisse zu zeitigen habe, oder, populär ausgedrückt: Es zeichnet sich ab, daß auch im Falle der EU-Verfassung die Bevölkerungen der ablehnenden Länder so lange über das Werk abstimmen dürfen bis sie endlich zugestimmt haben. Bundeskanzlerin Merkel hat jedenfalls für die bevorstehende deutsche Präsidentschaft in der EU angekündigt, die Verfassung und ihre Verabschiedung wieder auf die Tagesordnung zu setzen.

Ohnehin waren zahlreiche Länder in der EU gar nicht erst das Risiko eingegangen, daß die Bevölkerung durch eine Ablehnung das Ratifizierungsverfahren behindern könnte. Auch hier dürfte die Durchführung von Volksentscheiden in den Ländern mit entsprechenden Traditionen eher als lästig empfunden worden sein.

Zurück zur deutschen Debatte um den Föderalismus, der zur Zeit Objekt des Reformwillens der Eliten ist. Dabei wird eine Veränderung des Staatsverständnisses anvisiert, ein tiefgreifender Eingriff, der jedoch so technisch gestaltet ist, daß eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit zu diesem Thema nicht stattfindet. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Frage, ob die Leitidee des deutschen Föderalismus weiterhin der solidarische Verbundföderalismus bleibt, oder ob wir einen Paradigmenwechsel hin zu einem Wettbewerbsföderalismus mit unterschiedlichen Lebensverhältnissen in den verschiedenen Bundesländern vollziehen.

Schon Bundespräsident Köhler machte in einer Rede klar, daß wir uns von der Vorstellung lösen sollten, gleiche Lebensverhältnisse im Land haben zu wollen. In diesem Sinne ist auch schon in den 90er Jahren die Verfassung geändert worden. Nun ist der Bund nicht mehr gehalten, für gleiche Lebensverhältnisse in den Ländern zu sorgen, sondern es soll die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse angestrebt werden. Ausfluß dieser Änderung sind unter anderem die Urteile des Verfassungsgerichts zur Junior-Professur, zur Einführung von Studiengebühren und zum Übergang der Zuständigkeit für die Ladenöffnungszeiten in die Gesetzgebungskompetenz der Länder.

Setzt sich unter anderem der Konvent für Deutschland mit seinen Vorstellungen zum Wettbewerbsföderalismus durch, dann bedeutet dies das Ende der Idee, daß wir in einem Land leben, in dem auch unter den Ländern Solidarität geübt wird. Für diese Entwicklung wirbt Bayern bereits im Rahmen der Gesundheitsreform. Ministerpräsident Stoiber möchte verhindern, daß bayerische Versicherte einstehen müssen für die Defizite der Kassen in anderen Bundesländern. Ebenso möchte das Land Bayern, welches selbst 40 Jahre lang Empfängerland und damit auf die Solidarität anderer Bundesländer angewiesen war, als Geberland nun keine Unterstützung mehr leisten für andere Länder, denen es heute so geht wie Bayern früher. Egoismus als Leitlinie der Politik.

Auch dies ist Bestandteil der Wettbewerbs-Ideologie, in der nunmehr der Wettstreit um die besten Ergebnisse, die meisten Industrieansiedlungen steht. Neben dem Umstand, daß es nun einmal strukturell schwächere Bundesländer gibt, führt diese Idee der Staatsorganisation wesentlich zu einem Leben auf anderer Länder kosten. Wer dem Wettbewerb nicht gewachsen ist, soll verschwinden, also mit anderen Ländern fusionieren. Auch hier wird nach den Erfahrungen bei der gescheiterten Fusion von Berlin und Brandenburg überlegt, ob man nicht doch besser den Passus in der Verfassung streichen sollte, nachdem die Bevölkerung der betroffenen Länder über eine Fusion zu entscheiden haben, um Länderneugliederungen zu erleichtern. Erneut also die Idee, sich über den Willen der Menschen hinwegzusetzen, wenn diese nicht so wollen wie die Eliten.

Was ist das Bedrohliche an dieser Entwicklung? Was spricht eigentlich dagegen, die Demokratie und den Föderalismus fit zu machen für den globalen Wettbewerb? Warum sollen Entscheidungswege eigentlich nicht verkürzt werden, wenn es dem wirtschaftlichen Erfolg des Landes dient?

In erster Linie ist dagegen vorzubringen, daß dieser vermeintliche wirtschaftliche Erfolg, dem die Demokratie angeblich mit ihren langwierigen Prozessen im Wege steht, kein Selbstzweck werden darf. Der Verweis auf Globalisierung und vermeintliche wirtschaftliche Nachteile wird mehr und mehr zum Stemmeisen, mit dem demokratische Errungenschaften aufgebrochen werden sollen. Nicht selten stehen hinter dieser Argumentation nichts weiter als die wirtschaftlichen Interessen mächtiger und reicher Lobbygruppen. Wirtschaftlicher Erfolg dient längst nicht mehr der nationalen Gesellschaft, die dafür Opfer in Form von Abstrichen an der Demokratie hinnehmen soll. Unternehmen wie Allianz, Siemens und andere machen Gewinne und entlassen trotzdem Arbeitnehmer. Unternehmen wie Schlecker, Aldi und Lidl betrachten Betriebsräte und Mitbestimmung der Arbeitnehmer als Zumutung. Auch hier offenbaren sich Demokratiedefizite.

»Reform an sich ist kein Signum »guten« Regierens, dem man mit fragwürdigen Legitimitätskriterien hinterherhecheln muss« schreibt Roland Lhotta in seinem Beitrag für Aus Politik und Zeitgeschichte im Heft 43/2003. Daß das Zwei-Kammer-System und die Einspruchsmöglichkeiten, die die Länder über den Bundesrat haben, absichtsvoll ein verzögerndes Element in der Gesetzgebung darstellen ist in der öffentlichen Debatte schon länger aus den Augen verloren worden. Die Blockademöglichkeit, die der Bundesrat hat, ist das Instrument zur Kontrolle der Bundes-Exekutive. Denn wie sonst soll eine effektive Kontrolle tatsächlich ausgeübt werden ohne eine glaubwürdige Blockadedrohung zu haben?

Damit sind wir nun zum Kern des eigentlichen Problems der öffentlichen Debatte vorgedrungen, dem Verständnis von Effektivität. Wirtschaftliche Effektivität ist etwas anderes als Effektivität in einem demokratischen System. Ob eine Demokratie effektiv ist oder nicht, entscheidet sich nicht - zumindest nicht in erster Linie - an wirtschaftlichen Kriterien. Die Effektivität eines demokratischen Systems erweist sich daran, in welchem Ausmaß es in der Lage ist, gegenläufige Interessen zu integrieren und dabei in den demokratischen Verfahren die Willensbildung in der Bevölkerung so genau wie möglich wiederzuspiegeln.

Der Umstand, daß in Deutschland im Verlauf der Legislaturperiode des Bundes-Parlamentes immer wieder Landtagswahlen stattfinden, die unter anderem letztlich auch der Bundesregierung eine Rückmeldung der Bevölkerung über die betriebene Politik geben, ist keine Störung von Entscheidungsabläufen. Vielmehr besteht hier die realistische Chance für eine Regierung sich auf das zurückzubesinnen, was der eigentliche Zweck ihres Tuns ist, nämlich den Willen der Bevölkerung aus der Wahlentscheidung in konkrete Politik zu verdichten. Nicht die Eliten haben den Menschen zu erklären, was gut für sie ist, sondern die Menschen bringen durch ihre Wahlentscheidung zum Ausdruck, welche Politik sie wünschen.

Deshalb ist es ein Alarmzeichen, daß die Wahlbeteiligung immer stärker rückläufig ist, immer mehr Menschen sich durch die vorhandenen Parteien nicht repräsentiert fühlen. Dieser Umstand der schwindenden Legitimation politischer Entscheidungen durch Wahlenthaltung ist ein echtes Warnsignal und kündigt eine Krise des politischen Systems an. Denn je weniger Menschen sich durch das politische System vertreten fühlen, desto mehr schwindet auch die Bindung an das System als solches. Tür und Tor für Populisten, die das ganze System abräumen wollen, öffnen sich.

Langfristig können auch die Lobbyisten und Kampagnen-Macher neoliberaler Ideologie kein Interesse daran haben, daß die Akzeptanz des demokratischen Systems schwindet. Um dies zu erkennen, müssen sie jedoch zunächst ihr kurzfristiges Denken überwinden und sich darüber klar werden, daß man als elitäre Minderheit nicht ungestraft auf Kosten einer breiten Mehrheit leben kann. Nicht die Demokratie muß an die Erfordernisse der Wirtschaft angepaßt werden, sondern die Wirtschaft an die Erfordernisse der Demokratie.

Hierzu gehört auch, daß die Gewinne nicht länger unter wenigen aufgeteilt werden, daß Manager sich nicht großzügige Gehaltserhöhungen gönnen, während die Arbeitnehmer in ihren Betrieben die Arbeitsplätze verlieren und langfristig auf Hartz IV verwiesen werden. Auch das trägt zur Akzeptanz des Systems bei oder eben nicht, zumal wenn die Marktwirtschaft so gerne als »Schwester der Demokratie« bezeichnet wird, was im übrigen eine gut gepflegte Legende ist. Gerade die deutsche Wirtschaft hat in der Vergangenheit bereits gezeigt, daß sie auch gut ohne Demokratie klarkommt, und letztlich ihre Gewinne sogar noch in die später entstehende Demokratie retten kann.

Nicht elitäre Kampagnen wie »Du bist Deutschland« oder auch die »Reform der Reformfähigkeit« stehen auf dem Plan, sondern die Aufwertung demokratischer Einrichtungen. Hierzu gehört auch die Zurückverlagerung der Politik aus den Kommission und aus den Talkrunden wie »Sabine Christiansen« ins Parlament. Das Selbstverständnis der Parlamentarier muß aufgewertet werden. Nicht länger darf sich unwidersprochen verächtlich über Parlamentarier geäußert werden, wie in dem oben zitierten Ausspruch von Hans-Olaf Henkel bei Sabine Christiansen.

Und das Mandat muß wieder im Mittelpunkt der Tätigkeit des Abgeordneten stehen, wie es das neue Abgeordnetengesetz will. In einer funktionieren parlamentarischen Demokratie muß es allgemein als Skandal empfunden werden, wenn ein Abgeordneter wie Friedrich Merz auf sein vermeintliches Recht klagt, als gewählter Parlamentarier mehr Kraft auf seine Nebentätigkeiten als auf sein Mandat verwenden zu können. Und es muß als eine unzulässige Geheimnistuerei gelten, wenn Abgeordnete dagegen klagen ihren Wähler/innen Rechenschaft darüber ablegen zu müssen, wer sie neben ihrem Mandat noch bezahlt.

Politik muß wieder im Parlament stattfinden. Der Ort der Meinungsbildung muß das Plenum des Deutschen Bundestages sein und nicht etwa Kommissionen, die nach entsprechenden Vertretern der Wirtschaft benannt sind. Die Parteien dürfen sich nicht länger einem vermeintlichen Sachzwang der Globalisierung und einer Politik der Privatisierung verschreiben. Sie müssen sich und den Staat endlich wieder in die Lage bringen, politisch zu handeln und den Menschen unterscheidbare Konzepte vorzulegen, über die sie dann abstimmen können. Insbesondere der Mangel unterscheidbarer Konzepte hat in den letzten Jahren zum Schwund der Wahlbeteiligung beigetragen. Hier muß der Hebel angesetzt werden, und hier ist auch dringend mehr Selbstbewußtsein der Politik gegenüber der Wirtschaft notwendig, denn als verlängerter Arm der Interessen der Profitwirtschaft haben Parteien und Demokratie keine Zukunft.

© Udo Ehrich, 19.04.2014